ANHANG ZUM PROTOKOLL vom 04.11.2022
Ein Erfahrungsbericht:
Der Grundgedanke für einen Sozialstaat ist eigentlich sehr einfach: Alle zahlen beim Staat Steuern ein. Wer viel Geld hat, zahlt mehr, und wer wenig Geld hat, zahlt weniger. Mit dem Geld baut der Staat (also wir) dann die Strassen, Schulen, Spitäler usw. Und wenn es jemandem schlecht geht, wird ihm geholfen: z.B. mit Familienbeihilfe, Mietbeihilfe, Heizkostenzuschuss, Befreiung von Gebühren usw.usf. Niemand soll unter die Räder
kommen, und deshalb hat man alle diese Unterstützungen überhaupt erfunden. Das geschah besonders in den 70er-Jahren und danach.
Also: wenn du etwas brauchst, gehst du zum Amt, klopfst an, gibst an, wie wenig Geld du grad hast, und dass das für dich oder deine Familie nicht genug ist. Die im Amt rechnen dann auf einer Tabelle aus, auf wieviel Unterstützung du Anspruch hast. Die bekommst du dann, solange du sie brauchst.
Seit der Neoliberalen Wende ist das anders: wer nix hat, gilt jetzt als Versager oder als fauler Sack, der sich ja nur in der „sozialen Hängematte“ wälzen will. Grund genug, diesem zweifelhaften Subjekt das Leben schwer zu machen: mit Formularen und Anträgen und Beilagen und Ablehnungen für möglichst alles, möglichst in unverständlicher Amtssprache, usw. Möglichst solange, bis man scheitert oder aufgibt oder beides. Da spart sich die Verwaltung ein Geld, die Reichen ersparen sich eine angemessene Steuer, und der Staat wird
schön „schlank“. Wer Glück hat, kriegt noch einen heissen Tip: „Gehn’S doch zu einer dieser Beratungsstellen, die sind eh für Sie da!“
Also gut – Hilfe naht! Es gibt ja die Hilfseinrichtungen wie Diakonie oder Caritas oder migrant.at oder BetreutesWohnen und noch andere Einrichtungen, die sich auskennen und einem bei der Bewältigung dieser Hürden beistehen! Die sind zwar auch bis zu 100% vom Staat finanziert, aber die wollen wenigstens selber helfen. Man braucht nur einen Blick in die
bunten Folder und auf die schönen websites zu werfen, und schon weiss man: hier bist du richtig, hier wird angepackt und alle werden froh! Was die nicht alles tun! Sie loben und preisen sich dafür selber.
Leider nein – zu früh gefreut! Hofft man hier auf Unterstützung gegenüber den Ämtern, damit man endlich zu seinen Ansprüchen kommt (man will ja eh nichts geschenkt), wird man schnell belehrt: „Wir beraten nur, wir betreuen nicht!“ Und: „Leider sind wir gerade da nicht zuständig, gehen Sie woanders hin!“ . Drum tu dies und tu das, hole ein und fülle aus, vor allem halte durch, wir wünschen dazu auch alles Glück! Und geht man unverzagt woanders
hin, bekommt man zu hören: „Wir beraten nur, wir betreuen nicht! Und leider sind wir gerade da nicht zuständig, gehen Sie doch woanders hin! Bitte halten Sie durch und wir wünschen auch alles Glück!“
Ich schätze mich als durchschnittlich intelligent ein, sozial bin ich bisher eingermaßen durchgekommen, auch sprachlich fühle ich mich ausreichend hiesig und kompetent, aber ich gestehe: ich bin gescheitert, an beiden, an den Ämtern und an den Hilfseinrichtungen. Wie geht es dann einer Flüchtlingsfamilie, fremd und in holpriger Sprache?! Ich wollte eine
Familie begleiten zwecks Gebührenbefreiung von der schulischen Nachmittagsbetreuung (man beachte das Wortungetüm) für ihre Kinder, wegen irrtümlich krankenversicherungsfreier Zeit privat bezahlte Arztkosten rückerstattet bekommen, den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigungen stellen, eine Mietbeihilfe erreichen,
und noch ein paar Sachen mehr… Aber wie gesagt, ich bin gescheitert aus drei Gründen:
- erstens, weil ich kein Profi bin und mich nicht auskenne. Das mache ich mir aber nicht zum Vorwurf, denn es kann ja nicht jeder eine Ausbildung zum Sozialarbeiter machen, bevor er zu leben anfängt.
- zweitens an den Ämtern, von denen ich geglaubt habe, sie seien dazu da, wofür sie einmal erfunden wurden. Jetzt weiss ich, dass ihr Ziel der bürgerfreie Kundenverkehr ist und der Weg dorthin über vertauschte Formulare, nicht verstehbares Amtsdeutsch und Aufsplitterung in möglichst viele Nebenstellen mit gegenseitigen Bestätigungen führt.
- drittens an den Hilfseinrichtungen, die der Staat zwar für ihm lästige Aufgaben bezahlt, die aber aus lauter Angst, sie könnten diese Finanzierung wieder verlieren, sich in vorauseilendem Gehorsam üben, ihr eigenes ursprüngliches Anliegen vergessen und sich selber wie ein schlechtes Amt aufführen.
Für die Anliegen der Familie brauchte es kundige Personen mit dem notwendigen Fachwissen, aber es gelang bei keiner einzigen Hilfseinrichtung einen persönlich Gesprächstermin zu vereinbaren, weil „überlaufen“ oder „nicht zuständig“ oder „corona“ oder „leider, leider nur telefonisch“ und „das dürfte ich Ihnen eigentlich eh gar nicht sagen…“ und „bei der andern Einrichtung ist die Warteschleife eh ganz kurz…“ Die erhaltenen Auskünfte waren unbrauchbar oder sogar falsch, brachten die Familie in ihren Anliegen jedenfalls keinen Schritt weiter.
Worin sich Ämter und Hilfseinrichtungen unterscheiden, ist der Charme: von einem Amt wird man kalt angeschnauzt „wos wüün’s, homma ned, gibt’s ned“, von einer Hilfseinrichtung wird man warm angesäuselt „halten Sie durch, wir sind mit Ihnen!“, leere Luft ist es bei beiden.
Worin sich Ämter und Hilfseinrichtungen einig sind: möglichst klientenfreies Arbeiten. Oder frei nach Brecht: Entweder „Nix zum Fressen ohne Moral“ oder „Auch nix zum Fressen, dafür mit viel Moral“.
Ich habe nichts erfunden, sondern es ist alles die letzten Monate selbst erfahren und erlebt.
Die daraus gezogenen Schlüsse sind eine Mischung aus kalter Analyse und heissem Zorn. Um nicht in Hilflosigkeit zu versinken oder zu verharren, hilft wohl nur eines: Nicht aufgeben und herzhaft lästig sein – da wie dort.
Ist ja dein und mein Steuergeld – da wie dort.
Harald Spirig